Viveka oder ist Hatha Yoga diskriminierend?

Viveka, die Unterscheidung, ist ein zentraler Begriff der vedantischen Philosophie. Die Erkenntnis, dass weder Körper noch Geist, weder Gedanken noch Gefühle das Selbst sind, entsteht durch viveka.[1] Unterscheidung meint in diesem Zusammenhang, die Unterscheidung zwischen atman und anatman, dem Selbst und dem Nicht-Selbst.[2]

In diesem positiven Sinne findet sich das Wort Diskriminierung im alltäglichen Sprachgebrauch eher selten. Ist die Rede von Diskriminierung, meint man im Allgemeinen die sachlich nicht begründbare Benachteiligung von Personen oder Personengruppen. Gibt es hier einen Zusammenhang zum Yoga? Der erste Reflex ist, diesen vollständig zu bestreiten; gibt es doch genug Aussagen namenhafter Yogis, die jeder Art von Diskriminierung widersprechen. So z.B. Sri Ramakrishna „(…) Ich sehe überall Menschen, die sich im Namen der Religion streiten: Hindus, Muslime, Brahmos, Vischnuiten usw. Sie bedenken aber nicht, daß Der, der Krischna genannt wird, ebenso auch Schiwa heißt, und ebenso gut kann er Urkraft, Jesus oder Allah genannt werden und ebenso gut der eine Rama mit seinen tausend Namen.“ Auch zeitgenössische Autoren versprechen vollmundig „Yoga für jeden“ oder „Yoga für jedes Lebensalter“ etc. Heißt das, jeder Mensch kann Meisterschaft im Hatha Yoga erreichen? Auffällig ist, dass zumindest in Deutschland selten Yogalehrer über 50 Jahre alt sind, noch sind sie übergewichtig oder haben einen Migrationshintergrund. Letzteres findet sich meist nur in der Yogaszene, die sich mit der Tanzszene überschneidet.

Kann wirklich jeder Hatha Yoga machen? Etliche physische Krankheiten schränken die Asanapraxis deutlich ein, bzw. je nach gewähltem Hatha Yogastil macht die physische Konstitution diesen unmöglich. Mit erhöhtem Augeninnendruck ist es beispielsweise nicht ratsam, den Kopf lange unterhalb des Herzens zu halten, was für viele Asanas notwendig ist. Mit Knieproblemen wird es schwierig, die erste Serie des Ashtanga Vinyasa Yoga durchzuführen. Schwerere körperliche oder geistige Behinderungen, die vielleicht auch schon angeboren sind, sind in der aktuellen Yogaszene erst recht kein Thema.

Aber allein eine normale, nicht trainierte Beweglichkeit kann schon zu großen Frustrationen beim Ausüben der Asanas führen. Diese gilt es natürlich zu überwinden, um an den Widrigkeiten zu lernen. Lernt also der Unbewegliche mehr und schneller durch Yoga und sein vermutlich überdurchschnittlich beweglicher Lehrer liegt eigentlich im Hintertreffen, da für ihn z.B. pashimottanasana keinerlei Herausforderung bietet? Oder bleibt die Erlösung für unbewegliche Menschen für immer ein Traum?

Versteht man Hatha Yoga als Vorbereitung des Körpers durch Asanas auf die Erfahrung der Erleuchtung, dann ist ein gut gereinigter und durchlässiger Körper natürlich erstrebenswert, da dieser die Verbindung von Shiva und Shakti besser verarbeiten kann. Aber stimmt diese Annahme? Wenn jede der Asanas eine spezifische – positive und gesundheitsfördernde – physische, psychische und spirituelle Wirkung auf den Körper hat, müsste dann nicht jeder Kunstturner oder Tänzer kurz vor der Erleuchtung stehen? Nun kann man einwenden, letztere beiden Berufsgruppen führten ihre Dehnübungen in einem anderen Geisteszustand aus als ein Yogaschüler, wogegen ich einwende, dass vermutlich bei den erwähnten Turnern – zu ersetzen durch fast jede Kunstform die sich intensiv mit dem Körper auseinandersetzt – mehr Konzentration und Fokussierung beim Ausführen von Körperübungen vorhanden ist als bei jedem durchschnittlichen mitteleuropäischen Yogaschüler. Aber will ein Turner Erleuchtung erlangen und ist vielleicht dies der entscheidende Unterschied zum Yoga? Vielleicht. Aber mit etwas Böswilligkeit könnte man fragen, ob denn jeder Yogaschüler Erleuchtung erreichen will und diese Frage kann man vermutlich ebenfalls nur mit „vielleicht“ beantworten, denkt man an die Masse der Yogakurse, die mit Erlösung von Rückenschmerzen, einem besseren Schlaf, dem Abnehmen oder Stressfreiheit werben.

Nun bleibt die Frage ob Hatha Yoga überhaupt ein Ziel anstrebt, welches wiederum den idealen Schüler definieren würde? Hier, denke ich, kann man eine Antwort finden, auch wenn diese vielleicht der populistischen Meinung des „Alles geht“, „Der Weg ist das Ziel“ entgegenläuft. Denn folgt man Quellentexten wie dem Hatha Yoga Pradipika, dann strebt der Yogi durchaus ein Ziel an, mag dies Erleuchtung, Allumfassende Liebe oder moksha genannt werden.[3] Hatha Yoga wird im Hatha Yoga Pradipika als eine Ergänzung zum Raja Yoga, bzw. als die Vorbereitung des Raja Yoga verstanden. Mit Hilfe des Raja Yogas vermag der Praktizierende den Tod zu überwinden. Ziele wie „ich hätte gerne weniger Rückenschmerzen, weniger Stress, besseren Schlaf etc.“, sind natürlich erlaubt, aber im eigentlichen Sinne nur ein Zwischenergebnis, vielleicht sogar eines, dass einen vom Yoga wieder entfernt oder den Praktizierenden stagnieren lässt, wie die von Patanjali erwähnten siddhis.[4] Keine Rückenschmerzen, dafür kann man vielleicht sogar mit mehr Erfolg physiotherapeutische Übungen machen; der Stress lässt sich möglicherweise durch eine andere Lebensplanung (kein leichtes Unterfangen) reduzieren und der bessere Schlaf eventuell durch Autogenes Training hervorrufen. Für alle diese Ziele muss das Mittel der Wahl nicht Hatha Yoga sein, strebt man jedoch eine spirituelle Entwicklung an, dann kann Hatha Yoga der richtige Weg sein.

 

Viele Neugierige greifen für eine erste Orientierung zum Buch. Hier bietet der „Yogamarkt“ eine Fülle an Angeboten. Eine große Anzahl von guten Büchern und DVDs sind in den letzen Jahren zum Thema Hatha Yoga auf Deutsch oder Englisch erschienen, ebenso informieren Zeitschriften über aktuelle Trends. Aber auch die Yogaliteratur hat es in sich, und hier meine ich vor allem die Bilder, weniger den jeweiligen Text. In vielen Yogabüchern und Videos sehen Yogapraktizierende aus wie Models, d.h. sie sind in der Regel unter 30 Jahre, haben einen sehr schlanken Körper und keine äußerlichen Merkmale, die der herrschenden Mode zuwider laufen. Natürlich soll das entsprechende Buch gut verkauft werden und dafür müssen die abgebildeten Personen die Asanas unmissverständlich ausführen. Die abgebildeten Personen müssen folglich über ein hohes Maß an Körperbeherrschung verfügen, um eine Art Idealasana einnehmen zu können. Tatsächlich erwische ich mich selber oft genug, dass es mich ärgert, wenn eine Asana auf einem Bild nicht so ausgeführt wird, wie ich glaube, dass es richtig wäre, beispielsweise dass (fehlerhafterweise) im Adho Mukha Shvanasana die Fersen den Boden nicht berühren und der Rücken gerundet ist. Aber ist dies wirklich wichtig, denn es drängt sich die Frage auf, was eine Idealasana auszeichnet? Patanjalis sthira sukham āsanam benennt die bis heute geltenden Kriterien der Asanapraxis.[5]

Sind Patanjalis Merksätze eigentlich nur durch Interpretation zugänglich – Übersetzungen und damit auch die Deutungen variieren vernehmlich – so wird sthira sukham āsanam meist recht ähnlich verstanden z.B. „(…) Die Sitzhaltung soll fest und angenehm sein.“[6] „(…) Die Āsana sollen gleichermaßen die Qualitäten Stabilität und Leichtigkeit haben.“[7], oder sehr knapp formuliert „(…) Asanas – body postures“[8]. Die Interpretationen von Patanjalis kurzer Anweisung weisen vielfach zu recht darauf hin, dass eine Asana nicht nur eine Körperhaltung, sondern auch eine Geisteshaltung ist, mit deren Hilfe es überhaupt erst möglich sei, die scheinbaren Gegensätze von fest und leicht gleichzeitig zu verwirklichen.

Es ist also augenfällig, dass physische Perfektion kein Anzeichen von fortgeschrittener Yogapraxis sein kann, geistige Perfektion wohl eher. Aber wie überprüft man letzteres? Für geistige Prozesse mag die Neurobiologie mittlerweile gute bildgebende Verfahren entwickelt haben, für den Yogaschüler nutzen sie bisher noch nicht viel, wenn es darum geht, die eigenen geistigen Prozesse und damit den möglichen Lernerfolg im Yoga zu verstehen. Hier liegt vermutlich einer der Gründe, warum wir in Westeuropa gerade in den Medien, seien es Filme oder Bücher, den Schwerpunkt beim Hatha Yoga auf die physische Ausführung des Asanas legen. Vielleicht sollte man die Hatha Yoga Praxis lieber als Mittel verwenden, um eine Sprache und zuvor Begriffe und Wahrnehmung unserer eigenen geistigen Prozesse zu entwickeln, als vielmehr den Schwerpunkt immer wieder auf das Körperbewusstsein oder den optischen Eindruck zu legen. Damit würde Hatha Yoga näher an andere Yoga Wege rücken oder auch an Meditationstechniken anderen Ursprungs, nur dass im Hatha Yoga der Einstieg über den Körper geschieht, ohne diesen zum Mittelpunkt zu machen. Der Körper steht bereits im Alltag oft im Mittelpunkt, leider mit dem oben bereits angedeuteten Ergebnis der Diskriminierung, es sei denn man hat das Glück, faltenfrei, überschlank, sportlich und irgendwie diffus gesund zu sein.

Außer der Idee von physischer Perfektion vermitteln viele Yogabücher mit ihren Abbildungen– es gibt natürlich immer wieder und meinem Gefühl nach auch immer öfter rühmliche Ausnahmen – eine Körpernorm, die den aktuellen recht rigorosen Kriterien der Modewelt in nichts nachstehen. Was diese Bilder transportieren ist nicht zu unterschätzen. Yoga macht diszipliniert, glücklich, super beweglich und als Nebenwirkung: schlank und jung! Und wieder scheint es so als könne man die erfolgreiche Yogapraxis am Äußeren des Menschen ablesen. Auf diese Weise kann Yoga in den westlichen Konsum- und Jugendrausch schmerzlos integriert werden. Am besten praktiziert man natürlich in hippen Kleidern in Pastellfarben. Glaubt man diesem Bild, ist von vornherein ein großer Teil der Bevölkerung vom Hatha Yoga ausgeschlossen bzw. praktiziert es nur unzureichend, abzulesen an den „unvollkommenen“ Körpern und an der fehlenden Freude beim Einhalten einer rigorosen Diät, die zu Askese oder Reinigungstechnik umgedeutet wird. Dass die großen Gurus des Hatha Yoga wie Pattabhi Jois, Desikachar oder Iyengar diesem vermeintlichen optischen Ideal nur selten ähneln, scheint keine Fragen aufzuwerfen. Wenn schon eine Diät eingehalten wird, dann um das Ideal von ahimsa zu verwirklichen, also weder psychische noch physische Gewalt gegen fühlende Lebewesen – denn auch ein Yogi fühlt – auszuüben, nicht um einem Schönheitsideal gerecht zu werden oder sogar einem „Yoga Ideal“.

Im Zusammenhang mit Überlegungen zur physischen Perfektion von Asanas stößt man immer wieder auf den Ausspruch, dass es so viele Asanas wie Menschen gibt.[9] Für jeden ist das Ideal anders. Aber wie integriert man diese Erkenntnis in den praktischen Unterricht? Beim Sport lernt man u.a. durch Nachahmen, deshalb sollte der Lehrer möglichst gut vormachen, aber ist Yoga Sport? Hier kommt man wieder dem Unterschied zu gymnastischen Übungen auf die Spur. Der gute Yogaunterricht geht viel weniger vom Modelllernen aus als vom inneren Empfinden des Schülers; er ist subjektorientiert. Nicht der Lehrer muss die Asanas in irgendeiner Art ideal ausführen, sondern er muss den Schüler anleiten können, seine Körperwahrnehmung zu erkunden und zu deuten. Dies erklärt auch, warum in einigen Yogatraditionen der Lehrer nur verbal anleitet oder Hilfestellungen anbietet ohne die ganze Zeit selber mitzumachen. Aber auch hier könnte man wieder einwenden, dass auch im Tanz Methoden und Stile existieren, wie z.B. Authentic Movement, Butoh oder BMC, die den Schüler ein gesteigertes Körperbewusstsein lehren. Das Ziel dieser Tanztechniken – die zudem meist ein Amalgam aus westlichen und östlichen Praktiken (oft auch Yoga darstellen) – ist jedoch ein anderes als im Yoga, obwohl es in dem Bereich von Ritual, Performance und Religion Überschneidungen gibt. Wer Butoh erlernt erwartet nicht mit Hilfe dieser Technik Erlösung zu finden.

 

Vielleicht ist es eine gute Idee, dem Hatha Yoga gegenüber offen zu sein und nicht zu stark auf all die möglichen positiven gesundheitlichen Effekte zu pochen, denn diese sind eigentlich immer nur ein Nebenprodukt. Es wäre schön, durch Yoga mehr Innerlichkeit zu erreichen, eigene Unzulänglichkeiten zu akzeptieren bzw. diese als Merkmale und nicht als Unzulänglichkeiten wahrzunehmen. Das Streben nach Perfektion, sei sie körperlicher oder auch geistiger Natur, führt nur zu weiteren Spannungszuständen (kleshas). Hatha Yoga und auch viveka, die Unterscheidung kann helfen, genau diese Muster bei sich selbst zu entdecken. Der Wunsch gesund zu sein, einen schlanken Körper zu besitzen, jung auszusehen, mit Freude Askese betreiben zu können und gleichzeitig ein liebevoller und vor allem geliebter Mensch zu sein, ist nur umsetzbar, wenn man seinen eigenen engen Bewertungskatalog erweitert und vor allem, indem man entscheidet, welchen Normen man tatsächlich entsprechen will und warum. Yoga nutzen, um sich dem Konsum, dem Jugendkult oder generell Vereinnahmungen entgegenzustellen. Viveka im Sinne der Unterscheidung nutzen, um die Inhalte und Beweggründe zu erkennen, die hinter medialen Inhalten stehen. Mit dieser Erkenntnis z.B. die eigenen Sehgewohnheiten und ästhetischen Normen zu hinterfragen, um möglicherweise von ihnen Abstand zu nehmen. In diesem Sinne könnte pratyahara als Rückzug vor den Medien gedeutet werden. Bevor es zum eigentlichen Meditieren und dem Rückzug der Sinne kommt, kann schon im Alltag geprobt werden, sich von der normalen Informationsflut zu befreien.

Hatha Yoga beginnt seine Wirkung vielleicht dann am besten zu entfalten, wenn es stärker als spirituelle Reise, denn als sportliches Hilfsangebot für die verschiedenen Krisen des Alltags verstanden wird. Hatha Yoga lässt erkennen, dass es Werte jenseits der massenmedialen Norm gibt oder, da diese Erkenntnis meist nicht neu ist, lässt Hatha Yoga vielleicht den Mut wachsen, sich gegen den oft beträchtlichen Druck der Gesellschaft zu stellen.

 

 

 

[1] Feuerstein, Georg, The yoga tradition, Prescott 22001, S. 130.

[2] Auch Texte des Hatha Yoga betonen die Bedeutung von viveka, so z.B. das Carpata Shataka. (Feuerstein, ²2001, S. 422.)

[3] Feuerstein, 22001, S. 30 und Hatha Pradipika 4.102

[4] Bäumer, Bettina (Hg.), Die Wurzeln des Yoga. Die klassischen Lehrsprüche des Patanjali mit einem Kommentar von P. Y. Deshpande, Bern 112005, S. 156. Die Kritik, dass Hatha Yoga zum Egoismus führen kann entstand schon sehr früh; Jnanadeva kritisiert bereits im 13. Jh. Praxis der Hatha Yogis, der es seiner Meinung nach an Hingabe zum Göttlichen fehle. (Feuerstein, ²2001, S. 384)

[5] Bäumer, 112005, S. 121.

[6] Bäumer, 112005, S. 121. Sehr ähnlich BDY (Hg.), Der Weg des Yoga. Handbuch für Übende und Lehrende, Petersberg 42003, S. 92.

[7] Desikachar, T. K. V., Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali, Petersberg ³2006, S. 89.

[8] Ambrosini, Diane, Instructing Hatha Yoga, Champaign 2006, S. 5.

[9] Das Gheranda Samhita erwähnt, dass es so viele Asanas wie Tiere gibt und nennt die überwältigende Anzahl von 8 400 000 Asanas, die er von Shiva vermittelt bekam. (Feuerstein, ²2001,S. 393)

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